· 

Das Bedürfnis nach Bindung (oder Tinder)

- Das Bindungsbedürfnis in modernen Zeiten -

 

In den letzten Monaten schwebte ich auf Wolken, mit viel Stress verbunden, aber dem bekannten guten Stress, den wir bei erfüllender Arbeit verspüren, der keine Müdigkeit zulässt und uns jeden Tag voller Energie aufstehen lässt. Und dann kam der November. Mir ist eigentlich bewusst, dass mir der Übergang von Herbst zu Winter Schwierigkeiten bereitet. Diese dunklen Tagen, welchen trübsinnige Gedanken folgen und in einer Antriebslosigkeit münden. In der einen Woche blieb ich freiwillig drei Tage allein Zuhause, nicht Corona’s Schuld. Ich war erschöpft, müde von den jauchzenden Monaten davor. Wenn ich nicht gerade kochte, oder ass, lag ich auf der Couch und gab mich dem Binge-Watching mehrere Serien hin. Und mein Körper begann sich auf Winterschlaf einzustellen. Er übte sich in der Fertigkeit. Ich schlief stundenlang. Zum Glück hatte ich meine Arbeit, Verpflichtungen, welchen ich im Alltag nachgehen musste, aber privat konnte ich kaum bemerkbar allem entfliehen. Meiner Meinung nach litten auch meine Sozialkompetenzen darunter. Und ich bin meinen Freundinnen so dankbar, dass sie mich sogar in solchen Momenten mit Verständnis begleiten. 

Doch plötzlich spürte ich, dass das Bedürfnis nach Bindung, das offensichtlich in den letzten Monaten von Männern null abgedeckt wurde. Es fiel mir auf, dass dieser Tank fast leer war und geriet in meinen Fokus. Ich wollte den Tank füllen, schnellst möglich und kam damit fast in einen Rausch, der heute in komplette Narrheit geriet. Denn die einfachste Lösung meines Problems sah ich darin mich bei Tinder anzumelden. Horror - darauf gehe ich gleich ein. Aber eines sei jedem Gewiss, Tinder leert den Tank des Bindungsbedürfnisses, wenn man nicht gerade den oder die „Richtige*n“ dabei findet. (Das musste ich anfügen, weil ich meinem Freundeskreis doch das ein oder andere tolle Pärchen habe, dass sich über diese Plattform kennen gelernt hatte.) Nein, nein, es macht süchtig - im ersten Moment. Nach den Hormonausschüttungen, die einen beim Swipen übermannen. Die Vorstellungen, die man allein durch Bilder und vielleicht eine kleine Biografie eines Fremden erhält. Ach, was wäre wenn … 

 

Und dann schliesst man ernüchtert die App. Weil der Typ, der so sympathisch lächelte, einer der einzigen, der kein oben-ohne-Bild gepostet hatte, kein Ober-Outdoorsy-Sportler war, nicht 10 identisch aussehende Selfies mit Kopfhörer im Ohr, Sonnenbrille oder im Fitnessstudio (heutzutage am besten noch mit Maske) entgegen schleuderte. Oder noch schlimmer, die nur ihre Körpergrösse in die Bio schreiben. Wie einfallsreich. Ist auch klar, welche Frauen ihr dabei ansprecht, nicht wahr? Ich gerate in Rage, merkt man. Aber ohmann, ich sollte einen Vlog starten, der Reaction-Videos zu Tinder-Profilen macht. Ich würde reich werden. Aber - und hier kommt meine Tinder-Epiphany - ich bin auf Tinder tausendmal anspruchsvoller, als wenn mir jemand im realen Leben begegnet. Bei welchem meiner Ex-Freunde hätte ich wohl rechts geswiped? 

Ich bin so abgedriftet - eigentlich war ich ja bei der Ernüchterung. Die kam als ich mit einem Match zu schreiben begann. Ein Auserwählter. Ratet mal. Er hat mich fürs erste Treffen zu sich nach Hause eingeladen (da läuten bei einer verantwortungsbewussten Frau bereits die Alarmglocken) und kurz darauf nach weiteren Bilder von mir gefragt - das verstehe ich ehrlich nicht. Gibt es dafür eine Erklärung? Was brauchst du weitere Bilder, wenn wir uns bald sehen könnten? Ich stelle diese Frage nicht aus Naivität, denn dann würde es bedeuten, dass ich von einem Predator ausgehe, was ich in seinem Fall nicht tue. Ich verstehe den Sinn dahinter bloss nicht. Google mich, dann findest du genug Bilder. Hahaha. Quintessenz; auch wenn es matched, wird das Bindungsbedürfnis nicht zufrieden gestellt. Im Gegenteil; der Tank leert sich schneller, weil all die Zweifel, dass man nie jemand passenden findet, geschürt werden. 

 

Nach diesem Tag, den ich also als Tiefpunkt meines Bindungsbedürfnisses empfand, wurde es Nacht und ich wollte nicht schlafen gehen. Ich war unruhig. Ich durchforstete all meine Social Media Kanäle (Konsumverhalten für die Glückshormone; par excellence) und landete schliesslich bei meinen Mails. Da war sie. Die überraschende Nachricht einer ehemaligen Schülerin, die sich in wundervollen Worten dankend an mich wandte und mich daran erinnerte, weshalb ich mein Leben so führte, wie ich es tat. Sie erinnerte mich daran, was mir wichtig war, was mich glücklich machte. Sie schrieb vom Schreiben und vom Leben, vom Ankommen und Kämpfen und wie ich ihr dabei Hoffnung gab. Die Tränen kullerten mir die Wangen hinab. Ich erinnerte mich in dem Moment an die unfassbare Resonanz meines letzten Blogartikels, die stolze Stimme meiner Mutter, die mein Schreiben lobte, meine Freundinnen, die mit mir in den letzten Monaten so viel Erfolge feierten. 

Wie konnte ich in diesen vergangenen, kalten Tagen das Bindungsbedürfnis über all das stellen? Über alles, was die Sonne in meinem Herzen zum Strahlen brachte?

 

Der Psychologe Klaus Grawe benennt vier psychische Grundbedürfnisse: Das Bedürfnis nach Bindung, nach Kontrolle und Selbstbestimmung, nach Selbstwert und nach Lust. Drei von vier kenne ich so gut, dass ich mit ihnen umgehen kann, auf sie höre und mich durch sie besser verstehe. Aber dieses elende Bindungsbedürfnis. (In meinem Kopf lacht es schallend) Mir unverständlich, dass das nicht durch Familie und Freunde gesamt abgedeckt werden kann. Aber hey, das Aushalten gewisser Phasen ist manchmal genauso wichtig. So wie es den November braucht um den Mai bewusster zu schätzen. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0