- Ohne rosarote Brille unterwegs -
Meine Freundin wollte unbedingt eine Sonnenbrille. Sie war angetrunken und ich auch. Wir waren auf dem Weg an eine Party, in einen Klub, den ich vor etwa zwei Jahren an einer Lesung von Rafik Schami das letzte Mal von Innen gesehen hatte. Just sayin’.
Wir hatten Tickets für einen DJ, den man anscheinend kennen sollte. Ich tat es nicht, weil ich ein HipHop-Mädchen bin. Deshalb auch die Flasche Wein zum Abendessen. Ich brauche keinen Alkohol um Spass zu haben, aber bei Musik, die ich nicht unbedingt mag, hilft er um nicht nach fünf Minuten wieder aus der Lokalität zu stürmen. Ab in Sicherheit.
Zurück zu meiner Freundin. Sie wollte eine Sonnenbrille. Weil … Naja, es passte zum Abend. Wir fühlten uns jung, wild und sexy. Die jungen Leute (und ja, ich sage absichtlich junge Leute, weil es unserem Alter noch eins drauf setzt) trugen heutzutage ja alle Sonnenbrillen; in der Nacht, wenn’s regnet, im Klub. Natürlich nur die Obercoolen. I wear my sunglasses at night.
Da standen wir auf einer leeren Tanzfläche. Ich versuchte mich ungelenkig zu bewegen. Wir hatten Spass. Und da sah ich ihn. Stylisch, auf uns zu tanzend und mit dem wichtigsten Detail überhaupt: Einer Sonnenbrille auf der Nase. Wer den Vibe dieses Textes bereits erfasst hat, weiss, was jetzt kommt.
Genau. Wir knutschten. Nicht gleich zu Beginn und bestimmt nicht wegen der Sonnenbrille.
Wir tanzten durch die Nacht, bis der erste Kuss fiel. Bis wir auf einem Sofa im Raucherbereich landeten und unsere Must-Have-Listen durchgingen. Ich höre mich noch sagen: „Entweder bist du der Traum schlechthin oder der grösste Lügner, der mir je untergekommen ist.“ Was eine Lüge war. Joshua nicht zu vergessen. Yes! You got a name!
Es fühlte sich nicht nach einer Lüge an, als er sich durchgehend um mich kümmerte; nicht nur um mich, auch meine Freundin. Es fühlte sich nicht nach einer Lüge an, als er mich um meine Nummer bat, mich um ein Treffen in der kommenden Woche fragte. Es fühlte sich nicht nach einer Lüge an, als er den ganzen Heimweg lang mit mir telefonierte und wissen wollte, dass ich sicher zu Hause angekommen war. Aber zurück zum Alkohol … Shit, musste ich betrunken sein, oder Farbenblind. Alle red flags waren plötzlich unbeschreiblich grün.
Eine legendäre Nacht. Wird es immer bleiben. Auch mit den Nachwehen.
Ich konnte mich kaum erinnern, wie er aussah. Aber das war mir egal. Wir telefonierten. Wir schrieben, schickten uns Sprachnachrichten. „Süsse, ich fahre durch ein Funkloch. Ich ruf dich zurück, wenn ich zu Hause bin.“ Zwei Tage vergingen und wir hatten für den Dritten ein Spazier-Date ausgemacht. Zum Kennenlernen. Alles ganz langsam. Wir müssen nichts überstürzen, nicht Süsser? Er entschuldigte sich für diese eine Stunde, die er nicht zurückgeschrieben hatte. Ich verzieh ihm. Hahahaha. Liebe Freunde, es tut mir leid, dass ich euch ab und zu erst Tage später zurückschreibe. Aber eins kann ich euch versprechen. Diese Entschuldigung wird nicht das letzte sein, was ihr von mir lest. So ist es nämlich. Es war seine letzte Nachricht.
Er wurde in dieser Nacht zum Geist. Keine Sorge, er ist nicht gestorben. Das weiss ich, weil er zwei Tage später sein WhatsApp-Profilbild wechselte und gestern ein Foto von einem schönen Ausschnitt vor seiner Pizza in den Status gestellt hat. Ich habe daraufhin seine Nummer gelöscht.
Eigentlich hat er es nicht verdient, dass ich über ihn schreibe. Aber mir fielen dabei zwei Dinge auf. Ich finde Ghosting übelst respektlos. Ja, Joshua, dich finde ich auch übelst respektlos, aber nach über fünf Jahren erinnere ich mich bloss an dich, wenn mir wieder mal ein Lügner ins Netz geht. Das geschieht nicht oft, aber oft genug, dass es mich nicht mehr traurig macht. Und das macht mich traurig.
„Ich verstehe es nicht“, meinten meine Freundinnen. Ich auch nicht. Aber ich habe auch Eier. Viele. Okay, sie danken jeweils nach zwei Wochen wieder ab, aber jeden Monat produziere ich neue. Plus Aura, würden meine Schülerinnen sagen. Ich bin fucking plus aura. Mädels, kann man das von sich selbst sagen? Oder ist das dann minus Aura? Ist Aura überhaupt grossgeschrieben? Egal, jedenfalls kommuniziere ich meine Bedürfnisse, oder wenn sie mit meinem Gegenüber nicht mehr übereinstimmen. War schon echt unangenehm, aber wenigstens gerecht.
Die heutige Zeit hat vieles Gutes normalisiert - oder ist auf dem Weg der Normalisierung. Aber das Ghosting hat sich da drunter gemischt. Ghosting ist so normal geworden, dass es kaum mehr jemanden überrascht. Ich hoffe inständig, dass das aufhört, oder dass es wenigstens die Menschen nicht von Liebe abhält. Nicht davon abhält ihr eine Chance zu geben.
Hätte ich solche Erfahrungen nämlich in jungen Jahren gemacht, hätte ich wahrscheinlich schnell aufgegeben. Aber damals haben wir eine geile Nacht, noch eine geile Nacht sein lassen.
Wie damals auf Malta, als ich diesen einen Typen auf der Tanzfläche sah, er auf mich zukam, wir knutschten, als gäbe es kein Morgen und schliesslich ohne ein Wort wieder auseinander gingen. Keine Ahnung wie dieser Mensch hiess, woher er kam, wohin er im Leben noch ging. Es wird immer diese verrückt lustige Geschichte bleiben.
Die guten, alten Zeiten. Ach, du meine Güte. Ich bin alt. Vor allem bin ich zu alt für moderne Dating-Kacke. Ghosting. Stashing. Benching. Situationships. Für offene Kommunikation, Ehrlichkeit, Respekt und Liebe brauche ich keine Anglizismen, die sprechen meine Sprache.
Ich komme zu meiner Erkenntnis. Ich gehe das nächste Mal wieder nüchtern an eine HipHop-Party und trage dabei eine EnChroma Brille. (Googelt, dann können wir diesen Text beide lachend beenden.)